1,8 Milliarden Überstunden in 2015. Weltweit? Nö! Allein in Deutschland hat sich diese gigantische Summe angesammelt – über die Hälfte davon unbezahlt.
Da hat die Saarbrücker Zeitung, auf die sich seit gestern sämtliche Medien berufen, mächtig was losgetreten. Und wer jetzt „Sommerloch“ brüllt und meint, Überstunden gehören zum Arbeitsalltag wie Filterkaffee und Kantinenessen, dem sei gesagt, dass das – mit Verlaub – völliger Blödsinn ist.
Überstunden machen nicht produktiver
1,8 Milliarden Überstunden und ich habe zu keiner davon beigetragen. Meine Kollegen auch nicht. Wenn man sich die Zahlen anschaut, scheint das doch eigentlich die viel größere Nachricht zu sein. „Extrablatt! Extrablatt! Firma macht KEINE Überstunden.“ Irgendwie witzig, aber vor allem traurig. Denn so sehr ich meine Arbeit mag und gerne Zeit im Büro verbringe, genauso gerne sehe ich meine Liebsten und beschäftige mich mit anderen Dingen. Fakt ist: Wenn diese Balance dauerhaft gestört ist, kann man nicht mehr leidenschaftlich bei der Sache sein. Dann verschwimmt der Fokus und die Qualität leidet. Durch mehr Arbeit werde ich ganz sicher nicht besser, bloß unzufrieden.
40 Stunden und keine Minute mehr
40 Stunden klingen nach einer halbwegs willkürlichen Zahl. Aber tatsächlich wurde sie mit Sinn und Verstand gewählt. Kein Geringerer als Henry Ford hat getestet und festgestellt, dass die ungefähre Zeit, die ein Mensch in der Woche produktiv arbeiten kann, bei Pi mal Daumen 40 Stunden liegt. Das Ganze ist ein Weilchen her und man kann sicher darüber streiten, ob das heute auch noch gilt. Ein acht Stunden Tag fühlt sich für uns aber gut an. Ganz bestimmt auch deswegen, weil es wirklich dabei bleibt.
Okay, erwischt. Auch wir sind mal ein paar Minuten oder Stunden länger im Büro, wenn es brennt oder wir einfach eine Sache fertig bekommen wollen. Das entscheidet aber kein Vorgesetzter. Was bei uns zählt, sind Selbstverantwortung und die Gewissheit, dass wir jede Stunde, die wir heute länger bleiben, morgen früher gehen können. Ganz ohne fragende Blicke oder gar doofe Kommentare. Wenn Überstunden zur Regel werden, ist klar: da stimmt was nicht. Sie sind ein Indikator für fehlerhafte Prozesse. Wir haben standardisierte Abläufe, die helfen, die Ursachen ausfindig zu machen und abzuschaffen. Hierzu an anderer Stelle mehr.
Vertrauen ist gut, Stempeln ist besser
Ich wage zu behaupten, Überstunden zu vermeiden funktioniert bei uns unter anderem auch deshalb so gut, weil wir eine Stempeluhr haben. Richtig gelesen: progressives Unternehmen und piefiges (digitales) Stempelsystem. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen und würde jegliche Form von Zeiterfassung immer empfehlen. Denn so ziemlich jede Studie über Vertrauensarbeitszeit und die eigene Erfahrung mit selbiger zeigen, dass im Schnitt Unmengen an Überstunden gemacht werden. Oft unbemerkt, aber mit gravierenden Folgen: Schon die halbe Überstunde täglich addiert sich im Jahr ganz locker auf 12 oder mehr Arbeitstage. Auch kritische Beobachtungen von Kollegen á la „Franz geht heute aber früh.“ oder „Jana kommt immer erst mittags ins Büro, die arbeitet auf jeden Fall weniger als ich“ werden dank der Stempeluhr abgestellt.
Wichtig ist, dass es nicht darum gehen darf, Mitarbeiter zu überwachen. Die Stempeluhr dient vorrangig als Hilfsmittel zur Selbstkontrolle. Jeder bei uns kann sich eigenständig in das System einloggen und Zeiten ändern oder nachtragen. Hier wird Vertrauen dann nämlich doch groß geschrieben. Im System online und auch bei jedem Stempeln auf der Uhr selbst wird der aktuelle „Kontostand“ angezeigt. Bei größeren und andauernden Abweichungen begeben wir uns auf die Suche nach der Ursache, um diese dann konkret anzugehen. Denn natürlich bringt die beste Stempeluhr der Welt nichts, wenn man nicht auf sie hört.
Was sind eure Erfahrungen mit Überstunden? Macht ihr welche? Und wenn ja, wie geht ihr damit um?
11 Kommentare
Thomas:
„Halben Tag Urlaub oder was“ – die Sprüche kennt doch jeder, wenn man um 15 Uhr nach Hause geht, weils jeder mitbekommt. Das man morgens aber um 6:30 im Büro war, bekommen nur wenige mit, weil die meisten erst um 9 Uhr aufschlagen. Ein Hoch auf die Arbeitszeiterfassung.
Ihr macht genau das Gegenteil, was mein AG am liebsten machen würde – weg von der Zeiterfassung hin zu Vertrauens-Arbeitszeit. Der Vorteil für den AG ist ja ganz klar, die Leute arbeiten genausoviel oder mehr, aber es wird nicht mehr erfasst und die Leute fallen nicht aus, weil die ihre Überstunden abbauen.
In gewissen Grenzen haben wir das sowieso schon, alle die bei uns HomeOffice machen, werden zeitmässig nicht erfasst, ihnen werden die 7,7 Std. Arbeitszeit aufs Zeitkonto gebucht. Wielange der jenige aber in Wirklichkeit arbeitet, überliegt dann jedem selber. Die wenigsten korrigieren die Zeiten dann.
Ich persönlich möchte meine Arbeitszeiten jeden Tag weiterhin erfassen und am Ende sehen, wieviele Überstunden wieder angefallen sind und ich möchte auch weiterhin die Freiheit haben, mir diese weggefallende Freizeit wiederzuholen. Einfach mal einen Tag früher nach Hause gehen oder direkt ein längeres Wochenende einbauen können.
Wir ( und ihr ja auch ) arbeiten in einer Branche, die stark Event-orientiert ist.
Wenn es Kunden- oder Systemstörungen gibt, dann müssen die behoben werden und das schnellstmöglich. Dafür Überstunden zu machen ist kein Thema.
Wo ich mich aber gegen Überstunden verwehre ist, wenn diese zum Regelfall werden, weil die anfallende Arbeiten nicht anders erledigt werden kann, wiel z.b. zuwenig Personal da ist und das ist leider der Punkt, wo u.a. bei uns der Hase hinläuft.
Mein Zeitkonto zeigt derzeit wieder über 40 Std. plus an, teilweise wegen längere Arbeitszeit tagsüber, teilweise aber auch durch Nachtarbeiten bedingt. Wird mal wieder Zeit ein paar Tage frei zu nehmen :)
Bis 40 Std. Mehrarbeit wird tolleriert, bis 80 Std. wird einem vom Vorgesetzten nahegelegt, doch mal schnell wieder unter die 40 Std. zu kommen. Bei mehr als 80 Std. ist das ein Fall für den Betriebsrat und dann muss man Mehrarbeit abbauen. Ich kenne einige KollegenInnen, die auch die 100 Std. überschritten haben.
So, werde mal ein paar Gleittage planen :)
Thomas
Eugen:
Stempeln gepaart mit einer monatlichen Arbeitszeit, die flexibel abgetragen werden kann, ist und bleibt das beste System!
Johanna:
Lieber Thomas, vielen Dank für deine Schilderungen! Bei uns gab es tatsächlich auch schon die Überlegung, Vertrauensarbeitszeit einzuführen. Da steckt immerhin Vertrauen drin… das muss doch gut sein ;) Letztlich haben wir uns aber dagegen entschieden und sind bei der Stempeluhr geblieben. Heute zeigen wir Gästen immer voller Stolz das optisch vielleicht nicht ganz so schöne Teil. Und absolut, Überstunden lassen sich nicht zu 100% vermeiden. Besteht aber keine Möglichkeit, sie wieder loszuwerden oder noch schlimmer: sie vermehren sich konstant, läuft da was schief. Es ist auf jeden Fall ein wichtiges Thema, das man nicht einfach unter den Tisch kehren sollte. Das zeigt die unfassbare Zahl von 1,8 Milliarden und auch das Feedback, das wir auf verschiedenen Kanälen zu unserem Artikel bekommen haben. Deins eingeschlossen :)
Johanna:
D’accord, Eugen :)
Thomas:
Hallo Johanna,
Stimmt, der Klotz ist nicht gerade stylisch, konnte den kürzlich bei einer LeanDUS schon besichtigen :)
Bei uns hat es in der Vergangenheit des öfteren Arbeitszeitverstösse gegeben, das ging bis zum Arbeitsgericht und deswegen wird da bei uns auch massiv drauf geachtet, das die Arbeitszeitgesetze eingehalten werden.
Die Firmen wollen immer mehr sparen, immer weniger Leute, immer mehr Arbeit und dann türmen sich die Überstunden in den Himmel. Das beste Beispiel ist doch unsere Polizei.
Aber ich geben dir vollkommen Recht, Überstunden sind nicht immer vermeidbar, aber wenn die zum Dauerzustand werden oder die Kollegen nicht mehr von ihren angestauten Stundenberg runterkommen, läuft in dem Unternehmen etwas grundlegend falsch.
Die grosse Verwunderung kommt aber auch dann, wenn genau diese Kollegen dann entweder lange ausfallen, weil die gesundheitlich fertig sind oder sogar direkt alles hinwerfen und kündigen. Beides kostet das Unternehmen weit aus mehr als einfach mal mehr Leute einzustellen.
Viele Grüsse
Thomas
Sven:
Das mit der Zeiterfassung machen wir ähnlich. Zwar kann nicht jeder seine Zeiten bearbeiten, aber die Monteure melden Ihre Zeiten auch einfach so formlos nach. Wir sind dann noch einen Schritt weiter gegangen. Bei uns gibt es Jahrearbeitszeit. Da wir im Winter und Frühjahr sehr viel Arbeit haben, fallen hier naturgemäß auch viele Überstunden an. Jeder Mitarbeiter muss aber bis zum November seine Überstunden wieder abbauen. Da kommt es schon mal vor dass ein Mitarbeiter 3 Wochen Gleitzeit nimmt. Vielleicht ungewöhnlich, aber im Sommer kann man mit der Freizeit naturgemäß auch viel mehr anfangen…..
Alex:
Schaut ihr eigentlich auch mal in eurer Feedback-Forum oder seid ihr nur noch damit beschäftigt, Euch selbst zu beweihräuchern?
So viele Anregungen mit vielen Stimmen und keinerlei Reaktionen … :-(
Johanna:
Hi Alex, na klar schauen wir da rein. Das Forum nutzen wir momentan aber tatsächlich fast nur als reinen Feedback-Kanal. Ganz im Gegensatz zu diversen Facebook-, Twitter- und anderen Social-Accounts, verschiedenen Anrufmöglichkeiten, E-Mail und natürlich hier dem Blog. Mangelnde Kontaktfreudigkeit kann man uns eigentlich nicht vorwerfen. Wir finden es großartig, so engagierte Kunden zu haben! Es tut mir leid, dass du einen anderen Eindruck bekommen hast. Liebe Grüße! Johanna
Daniel:
Die anderen Firmen sind da leider noch nicht so weit – könnten sich aber hier ein Vorbild nehmen:
http://www.spiegel.de/karriere/job-warum-arbeit-nicht-ohne-ueberstunden-geht-eine-satire-a-1128695.html
Richard:
Tolle Insights – danke allen hier. Wie löst ihr die Zeiterfassung im Homeoffice, wenn ich fragen darf? Ich möchte nicht so ein hässliches Teil im Flur hängen haben 🤣
Corinna:
Hi Richard!
Das Teil im Flur hat eine digitale Entsprechung auf ähnlichem optischen Niveau ;) Ich glaube, mit den physischen Karten stempelt kaum noch wer.
Nächstes Jahr steigen wir auf eine neue Zeiterfassung um und dann kommen die Stempelkarten weg…